Lorenz Schröter

Tractatus Architectonicus

Ludwig Wittgensteins Ausflug in die Baukunst brachte Wien ein geniales Haus. Und die Wiener Handwerker zur Verzweiflung

 

Das Haus war fertig, es musste nur noch geputzt werden, danach wollte Margaret Stonborough einziehen. Da entschied der Architekt, dass die Decke der Haupthalle aus Gründen der Ästhetik um drei Zentimeter angehoben werden müsse. Widerspruch war bei dem jähzornigen, völlig humorlosen Despoten zwecklos. Der Plafond wurde angehoben, was weitere enorme Kosten verursachte. Doch Geld spielte bei diesem Bau keine Rolle. Der Architekt war vorher niemals auch nur in der Nähe einer Architekturvorlesung gesehen worden. Er hatte Maschinenbau studiert und ließ noch während des Studiums einen Flugzeugmotor patentieren, der das Düsentriebwerk vorwegnahm. Später erfand er ein Messgerät für Blutdruckschwankungen. Doch sein bekanntestes Werk beginnt mit dem fulminanten Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Der Architekt hieß Ludwig Wittgenstein.

 

Seine Schwester, die geduldige und immens reiche Bauherrin Margaret, nannte ihn „Luki“. Sie war sieben Jahre älter, eine anerkannte Schönheit der Wiener Hautevolee, Intellektuelle und Mäzenin mit einer beeindruckenden Kunst- und Autografensammlung. Ihre Berliner Wohnung war von der Wiener Werkstätte eingerichtet worden. Vor ihrer Hochzeit mit dem Amerikaner Jerome Stonborough in Jahr 1905 porträtierte Gustav Klimt sie als noble Gesellschaftsblüte im cremefarbenen Seidenkleid. Ihr rastloses späteres Leben – inklusive Emigration und Juwelenschmuggel in der Unterwäsche – führte Margaret Stonborough nach Berlin, in die Schweiz, nach New York und immer wieder zurück in ihre Geburtsstadt Wien. Ihre Fähigkeit, Autoritäten durch private Kontakte und subversive List zu umgehen, behielt sie bis ins hohe Alter. Als Sigmund Freud 1938 ins Visier der eben in Österreich einmarschierten Nazis geriet, verhalf sie ihm gemeinsam mit ihrer Freundin Prinzessin Marie Bonaparte zur Ausreise nach London.

 

1925 fragte Margaret ihren Bruder Ludwig, ob er ihr bei der Planung einer Wiener Stadtvilla helfen wolle. Dieser war kurz zuvor als Volksschullehrer entlassen worden, weil er den Buben die Ohren blutig gerissen und sie bis zur Bewusstlosigkeit geohrfeigt hatte. Seinen Anteil am Millionenerbe hatte er an seine Geschwister verteilt, er hatte kein festes Einkommen und dilettierte als Gärtner. Da kam das schwesterliche Angebot durchaus gelegen. Von 1926 bis 1928 plante und leitete Ludwig Wittgenstein im dritten Bezirk zwischen 9 Kundmann- und Parkgasse den Bau des Palais. Es war das letzte seiner Art in den Wiener Innenbezirken, eine Hybride zwischen aristokratisch-repräsentativer und moderner bürgerlicher Architektur. Der Wittgenstein-Experte Paul Wijdeveld deutet die Architekturübung des Philosophen als „reinigende Geste“, gerade weil ein Autodidakt der Baukunst sie vollzogen hat.

 

Der hermetische äußere Eindruck der Villa verliert sich, sobald man die hohe Mauer durchschritten hat, die das Grundstück von der Straße trennt. Das Haus, früher inmitten einer Parklandschaft mit altem Baumbewuchs gelegen, wirkt mit jedem Schritt offener, leichter.

 

Fenster: grafisch gereiht, dicht aneinander gerückt, dabei irritierend weit von den Gebäudekanten platziert. Vom Garten führen ein paar Stufen auf eine von strengen Kuben beschützte Terrasse. Fällt nachts durch deren Glastüren Licht nach draußen, ist es, als würde eine japanische Papierlampe scheinen.

 

Der Einfluss von Adolf Loos, einem Freund der Familie Wittgenstein, ist unverkennbar. Zwei seiner Schüler waren an dem Palais beteiligt, Paul Engelmann, den Bruder und Schwester nach Herzenslust manipulieren konnten, und Jacques Groag, der einzige erfahrene Architekt bei dem Projekt. Ihn brachte Ludwig mir seinem rücksichtslosen Perfektionismus während der zweijährigen Bauzeit mehrmals an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. „Ludwig zeichnete jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit der Genauigkeit, als wären es Präzisionselemente“, schrieb seine älteste Schwester Hermine. „Ich glaube noch den Schlosser zu hören, der ihn anlässlich eines Schlüssellochs fragte: „Sagen Sie, Herr Ingenieur, kommt es Ihnen da wirklich auf den Millimeter an?“, und noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, fiel ein lautes, energisches „Ja“, dass der Mann beinahe erschrak.“

 

Die auf das funktionale Minimum reduzierten Türklinken wurden berühmt – ohne Beschläge oder sichtbare Schraube stecken sie direkt in der Tür. Die Doppelflügeltüren im großen Saal jede von ihnen unterschiedlich groß sind aus Eisenplatten  zusammengeschraubt; ihre Angelplatten verschwinden unter Farbe. Ohne Türschwelle schließen sie heute noch plan über dem Boden. Die Heizkörper ließ Wittgenstein in Deutschland gießen, kein österreichischer Handwerker konnte die geforderte Genauigkeit liefern. An den Fenstern verzweifelten acht Betriebe: Wie sollten 290 mal 25 Zentimeter große Scheiben in dünnen Messingrahmen gehalten werden, ohne zu zersplittern? Der neunte Glaser bekam einen Weinkrampf, da er den Auftrag unbedingt erfüllen wollte. Und irgendwie gelang es.

 

Wittgensteins Abneigung gegen das Ornament übertraf die von Adolf Loos bei weitem. Holz wurde übermalt, damit keine Maserung zu sehen war. Der Philosoph duldete keine Bodenleisten, Einfassungen oder Simse und verbot seiner Schwester Vorhänge, Teppiche oder Lüster. Erlaubt waren nur nackte 200-Watt-Birnen. Der Garten musste ganz grün bleiben, ohne Blumen. In einem Brief fragte ihn die Hausbesitzerin, ob sie wenigstens ein Außenthermometer aufhängen dürfe.

 

Trotz des fast manischen Klarheitszwangs, den man auch in Wittgensteins Schriften findet, ist das Ergebnis erstaunlich schön, die Atmosphäre alles andere als kalt. Noch heute fühlt man sich wohl in diesen Räumen. Durch die Glastüren und das gläserne Pultdach eines Wintergartens im Treppenhaus fallt Licht, der Stuccolustro an den Wänden glänzt in hellem Ocker, die grüngrau lasierten Metalltüren schimmern ebenso wie die polierten, fast schwarzen Bodenplatten aus feinkörnigem Kalkstein.

 

Sie wurden für jeden Raum so geschnitten, dass die Fugen exakt auf die Mitte der Flügeltüren trafen. Das alles bildete den Rahmen für den Stil der Hausherrin, für ihre Möbel der Wiener Werkstätte, ihre Sammlung von Skulpturen und Gemälden der Sezession.

 

„Wittgenstein hat das Haus für sich gebaut, um das geistige Experiment im Tun zu überprüfen“, meint der Architekt und Raum-Klang-Künstler Bernhard Leitner, Professor an der Akademie für Angewandte Kunst in Wien. Für Margaret und Ludwig bedeutete der Bau des Palais eine erneute Annäherung. Als Kinder waren sie einander sehr verbunden gewesen, doch später kehrte Margaret die große Schwester heraus: „Alle Schwäne Lukis sind Gänse“, befand sie einmal über den Freundeskreis des kleinen Bruders. Für beide markierte der Hausbau einen Wendepunkt. Margarets Ehe scheiterte endgültig, am Schwarzen Freitag 1929 verlor sie einen Großteil des gewaltigen Vermögens, ihre Söhne hatten die Schwermut des Vaters geerbt, der später Selbstmord beging. Dann kamen die Nazis und als Jüdin musste sie ihr geliebtes Wien verlassen. Die Welt, wie sie sie gekannt hatte, ging unter.

 

Für Ludwig hingegen hatte der Hausbau eine kathartische Wirkung. Sein ganzes Leben war er auf der Flucht vor seiner Familie gewesen, in der es zuging wie bei den Buddenbrooks. Der übermächtige Vater, ein Bilderbuchkapitalist mit Schnurrbart, Uhrenkette und Zigarre, wurde innerhalb weniger Jahre durch Handel und Spekulation zu einem der reichsten Männer der k. u. k. Monarchie. Die Mutter war liebevoll, neurotisch und überfordert, die Söhne alle kunstsinnig, alle depressiv und teilweise homosexuell. Drei Wittgenstein-Brüder begingen Selbstmord, Ludwig versuchte es zweimal und zog dann in den Krieg, mit der Absicht, an der Front zu fallen. Stattdessen wurde er mit der höchsten Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – diesen letzten Satz seines berühmten, quasi im Schützengraben geschriebenen „Tractatus logico-philosophicus“ kann man durchaus als Abschied lesen. Nach dem Ersten Weltkrieg lief Wittgenstein in einer abgeschabten Norfolkjacke herum, ungekämmt, ohne Krawatte, den obersten Hemdknopf offen. Wie jemand, dem soziale Konventionen längst nichts mehr bedeuten. Doch mit dem Hausbau fand der 37-Jährige wieder ins Leben. „Du glaubst, dass die Philosophie schon kompliziert genug sei“, bemerkte er gegenüber seinem Freund, dem Psychiater Maurice Drury. „Aber ich kann dir sagen, dass das gar nichts ist, verglichen mit der Schwierigkeit, ein guter Architekt zu sein. Als ich das Haus für meine Schwester in Wien baute, war ich am Ende des Tages so erschöpft, dass alles, was ich noch tun konnte, war, jeden Abend ins Kino zu gehen.“ Der Hausbau und die Western taten ihm sich dich gut. Das „Tractatus“ wurde als Doktorarbeit der Philosophie in Cambridge anerkannt, wo er sich als ein wegen seiner Unerbittlichkeit gefürchteter Professor etablierte. Noch jahrelang dachte Wittgenstein an sein Werk in der Kundmanngasse: „Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur)“, notierte er 1940. „Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Lebens, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt im die Gesundheit.“ Trotz seiner notorischen Selbstzweifel war er zufrieden mit seinem Bau-Werk. Bis auf ein Detail. Ein Treppenhausfenster an der Rückseite. Als er die Villa endlich als fertig erklären musste und selbst die Decke um die berühmten drei Zentimeter angehoben war, wollte er daran noch etwas ändern. Um das Geld dafür zusammenzubekommen, spielte er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Lotto. Vergeblich.

 

Bis zu ihrem Tod 1958 lebte Margaret Stonborough in der für sie allein viel zu großen Villa, wenn auch mit längeren Unterbrechungen. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Wittgenstein-Haus als Lazarett, danach zog die Rote Armee mit Pferden ein. Nachdem Margaret gestorben war, stand es jahrelang leer und verfiel immer mehr. Ihr Sohn Thomas, berufslos und depressiv wie sein Vater, verkaufte das Palais an einen Investor, der auf dem Grundstück ein Hotel errichten wollte. 1971 war die Abrissgenehmigung bereits unterzeichnet. In letzter Minute konnte die endgültige Zerstörung dank einer Initiative Bernhard Leitners verhindert werden. „Das Haus kannte ja keiner“, musste er erkennen. Nach der Fertigstellung wurde es  von der  Fachwelt nicht erwähnt, in keiner Zeitschrift dokumentiert und schon gar nicht diskutiert. Leitner schreibt: „Ich habe es gesehen und mir sind die Augen ausgefallen. Es ist einer der wichtigsten Bauten des 20. Jahrhunderts.“ 1975 erwarb Bulgarien für günstige 500 000 Euro das Anwesen, um dort sein Kulturinstitut unterzubringen. Langsam, aber sicher verfällt Wittgensteins Kunstwerk, das die Stadt Wien, so Leitner, „eigentlich immer gehasst hat“. Wände wurden eingerissen, Türen verschweißt, Heizkörper und Wände umgestrichen, Tür- und Fensterklinken ausgewechselt, Leuchtstäbe eingezogen und die alten Bäume des Gartens gefällt. Leitungen sind über Putz verlegt es regnet durch das Dach, in den Wänden klaffen Risse. Doch darüber sollte man schweigen.

 

© Beim Autor | Alle Rechte vorbehalten. Dieser Text ist urheber- und verwertungsrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

 

Lorenz Schröter

1960 in München geboren, ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist.

 

Bildquelle und Hinweis. Portrait: Lorenz Schröter, 1989. Foto: © Lorenz Schröter Privatarchiv. Der deutsche Journalist Lorenz Schröter im Herbst 1989, Selbstauslöserfoto in seiner Unterkunft in Fujian, China. Schröter war damals auf einer Reise um die Welt mit dem Fahrrad, die in München begann und endete. Er berichtete von der Reise regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk (Zündfunk), wo seine Reiseeindrücke unter dem Claim "Blitzventil" liefen. Konzipiert und redaktionell betreut hat diese Serie der Regisseur Nikolai von Koswlowski. Dieses Bild ist urheber- und verwertungsrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Porträtierten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lorenz Schröter

Tractatus Architectonicus

Ludwig Wittgensteins Ausflug in die Baukunst brachte Wien ein geniales Haus. Und die Wiener Handwerker zur Verzweiflung

 

Das Haus war fertig, es musste nur noch geputzt werden, danach wollte Margaret Stonborough einziehen. Da entschied der Architekt, dass die Decke der Haupthalle aus Gründen der Ästhetik um drei Zentimeter angehoben werden müsse. Widerspruch war bei dem jähzornigen, völlig humorlosen Despoten zwecklos. Der Plafond wurde angehoben, was weitere enorme Kosten verursachte. Doch Geld spielte bei diesem Bau keine Rolle. Der Architekt war vorher niemals auch nur in der Nähe einer Architekturvorlesung gesehen worden. Er hatte Maschinenbau studiert und ließ noch während des Studiums einen Flugzeugmotor patentieren, der das Düsentriebwerk vorwegnahm. Später erfand er ein Messgerät für Blutdruckschwankungen. Doch sein bekanntestes Werk beginnt mit dem fulminanten Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Der Architekt hieß Ludwig Wittgenstein.

 

Seine Schwester, die geduldige und immens reiche Bauherrin Margaret, nannte ihn „Luki“. Sie war sieben Jahre älter, eine anerkannte Schönheit der Wiener Hautevolee, Intellektuelle und Mäzenin mit einer beeindruckenden Kunst- und Autografensammlung. Ihre Berliner Wohnung war von der Wiener Werkstätte eingerichtet worden. Vor ihrer Hochzeit mit dem Amerikaner Jerome Stonborough in Jahr 1905 porträtierte Gustav Klimt sie als noble Gesellschaftsblüte im cremefarbenen Seidenkleid. Ihr rastloses späteres Leben – inklusive Emigration und Juwelenschmuggel in der Unterwäsche – führte Margaret Stonborough nach Berlin, in die Schweiz, nach New York und immer wieder zurück in ihre Geburtsstadt Wien. Ihre Fähigkeit, Autoritäten durch private Kontakte und subversive List zu umgehen, behielt sie bis ins hohe Alter. Als Sigmund Freud 1938 ins Visier der eben in Österreich einmarschierten Nazis geriet, verhalf sie ihm gemeinsam mit ihrer Freundin Prinzessin Marie Bonaparte zur Ausreise nach London.

 

1925 fragte Margaret ihren Bruder Ludwig, ob er ihr bei der Planung einer Wiener Stadtvilla helfen wolle. Dieser war kurz zuvor als Volksschullehrer entlassen worden, weil er den Buben die Ohren blutig gerissen und sie bis zur Bewusstlosigkeit geohrfeigt hatte. Seinen Anteil am Millionenerbe hatte er an seine Geschwister verteilt, er hatte kein festes Einkommen und dilettierte als Gärtner. Da kam das schwesterliche Angebot durchaus gelegen. Von 1926 bis 1928 plante und leitete Ludwig Wittgenstein im dritten Bezirk zwischen 9 Kundmann- und Parkgasse den Bau des Palais. Es war das letzte seiner Art in den Wiener Innenbezirken, eine Hybride zwischen aristokratisch-repräsentativer und moderner bürgerlicher Architektur. Der Wittgenstein-Experte Paul Wijdeveld deutet die Architekturübung des Philosophen als „reinigende Geste“, gerade weil ein Autodidakt der Baukunst sie vollzogen hat.

 

Der hermetische äußere Eindruck der Villa verliert sich, sobald man die hohe Mauer durchschritten hat, die das Grundstück von der Straße trennt. Das Haus, früher inmitten einer Parklandschaft mit altem Baumbewuchs gelegen, wirkt mit jedem Schritt offener, leichter.

 

Fenster: grafisch gereiht, dicht aneinander gerückt, dabei irritierend weit von den Gebäudekanten platziert. Vom Garten führen ein paar Stufen auf eine von strengen Kuben beschützte Terrasse. Fällt nachts durch deren Glastüren Licht nach draußen, ist es, als würde eine japanische Papierlampe scheinen.

 

Der Einfluss von Adolf Loos, einem Freund der Familie Wittgenstein, ist unverkennbar. Zwei seiner Schüler waren an dem Palais beteiligt, Paul Engelmann, den Bruder und Schwester nach Herzenslust manipulieren konnten, und Jacques Groag, der einzige erfahrene Architekt bei dem Projekt. Ihn brachte Ludwig mir seinem rücksichtslosen Perfektionismus während der zweijährigen Bauzeit mehrmals an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. „Ludwig zeichnete jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit der Genauigkeit, als wären es Präzisionselemente“, schrieb seine älteste Schwester Hermine. „Ich glaube noch den Schlosser zu hören, der ihn anlässlich eines Schlüssellochs fragte: „Sagen Sie, Herr Ingenieur, kommt es Ihnen da wirklich auf den Millimeter an?“, und noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, fiel ein lautes, energisches „Ja“, dass der Mann beinahe erschrak.“

 

Die auf das funktionale Minimum reduzierten Türklinken wurden berühmt – ohne Beschläge oder sichtbare Schraube stecken sie direkt in der Tür. Die Doppelflügeltüren im großen Saal jede von ihnen unterschiedlich groß sind aus Eisenplatten  zusammengeschraubt; ihre Angelplatten verschwinden unter Farbe. Ohne Türschwelle schließen sie heute noch plan über dem Boden. Die Heizkörper ließ Wittgenstein in Deutschland gießen, kein österreichischer Handwerker konnte die geforderte Genauigkeit liefern. An den Fenstern verzweifelten acht Betriebe: Wie sollten 290 mal 25 Zentimeter große Scheiben in dünnen Messingrahmen gehalten werden, ohne zu zersplittern? Der neunte Glaser bekam einen Weinkrampf, da er den Auftrag unbedingt erfüllen wollte. Und irgendwie gelang es.

 

Wittgensteins Abneigung gegen das Ornament übertraf die von Adolf Loos bei weitem. Holz wurde übermalt, damit keine Maserung zu sehen war. Der Philosoph duldete keine Bodenleisten, Einfassungen oder Simse und verbot seiner Schwester Vorhänge, Teppiche oder Lüster. Erlaubt waren nur nackte 200-Watt-Birnen. Der Garten musste ganz grün bleiben, ohne Blumen. In einem Brief fragte ihn die Hausbesitzerin, ob sie wenigstens ein Außenthermometer aufhängen dürfe.

 

Trotz des fast manischen Klarheitszwangs, den man auch in Wittgensteins Schriften findet, ist das Ergebnis erstaunlich schön, die Atmosphäre alles andere als kalt. Noch heute fühlt man sich wohl in diesen Räumen. Durch die Glastüren und das gläserne Pultdach eines Wintergartens im Treppenhaus fallt Licht, der Stuccolustro an den Wänden glänzt in hellem Ocker, die grüngrau lasierten Metalltüren schimmern ebenso wie die polierten, fast schwarzen Bodenplatten aus feinkörnigem Kalkstein.

 

Sie wurden für jeden Raum so geschnitten, dass die Fugen exakt auf die Mitte der Flügeltüren trafen. Das alles bildete den Rahmen für den Stil der Hausherrin, für ihre Möbel der Wiener Werkstätte, ihre Sammlung von Skulpturen und Gemälden der Sezession.

 

„Wittgenstein hat das Haus für sich gebaut, um das geistige Experiment im Tun zu überprüfen“, meint der Architekt und Raum-Klang-Künstler Bernhard Leitner, Professor an der Akademie für Angewandte Kunst in Wien. Für Margaret und Ludwig bedeutete der Bau des Palais eine erneute Annäherung. Als Kinder waren sie einander sehr verbunden gewesen, doch später kehrte Margaret die große Schwester heraus: „Alle Schwäne Lukis sind Gänse“, befand sie einmal über den Freundeskreis des kleinen Bruders. Für beide markierte der Hausbau einen Wendepunkt. Margarets Ehe scheiterte endgültig, am Schwarzen Freitag 1929 verlor sie einen Großteil des gewaltigen Vermögens, ihre Söhne hatten die Schwermut des Vaters geerbt, der später Selbstmord beging. Dann kamen die Nazis und als Jüdin musste sie ihr geliebtes Wien verlassen. Die Welt, wie sie sie gekannt hatte, ging unter.

 

Für Ludwig hingegen hatte der Hausbau eine kathartische Wirkung. Sein ganzes Leben war er auf der Flucht vor seiner Familie gewesen, in der es zuging wie bei den Buddenbrooks. Der übermächtige Vater, ein Bilderbuchkapitalist mit Schnurrbart, Uhrenkette und Zigarre, wurde innerhalb weniger Jahre durch Handel und Spekulation zu einem der reichsten Männer der k. u. k. Monarchie. Die Mutter war liebevoll, neurotisch und überfordert, die Söhne alle kunstsinnig, alle depressiv und teilweise homosexuell. Drei Wittgenstein-Brüder begingen Selbstmord, Ludwig versuchte es zweimal und zog dann in den Krieg, mit der Absicht, an der Front zu fallen. Stattdessen wurde er mit der höchsten Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – diesen letzten Satz seines berühmten, quasi im Schützengraben geschriebenen „Tractatus logico-philosophicus“ kann man durchaus als Abschied lesen. Nach dem Ersten Weltkrieg lief Wittgenstein in einer abgeschabten Norfolkjacke herum, ungekämmt, ohne Krawatte, den obersten Hemdknopf offen. Wie jemand, dem soziale Konventionen längst nichts mehr bedeuten. Doch mit dem Hausbau fand der 37-Jährige wieder ins Leben. „Du glaubst, dass die Philosophie schon kompliziert genug sei“, bemerkte er gegenüber seinem Freund, dem Psychiater Maurice Drury. „Aber ich kann dir sagen, dass das gar nichts ist, verglichen mit der Schwierigkeit, ein guter Architekt zu sein. Als ich das Haus für meine Schwester in Wien baute, war ich am Ende des Tages so erschöpft, dass alles, was ich noch tun konnte, war, jeden Abend ins Kino zu gehen.“ Der Hausbau und die Western taten ihm sich dich gut. Das „Tractatus“ wurde als Doktorarbeit der Philosophie in Cambridge anerkannt, wo er sich als ein wegen seiner Unerbittlichkeit gefürchteter Professor etablierte. Noch jahrelang dachte Wittgenstein an sein Werk in der Kundmanngasse: „Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur)“, notierte er 1940. „Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Lebens, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt im die Gesundheit.“ Trotz seiner notorischen Selbstzweifel war er zufrieden mit seinem Bau-Werk. Bis auf ein Detail. Ein Treppenhausfenster an der Rückseite. Als er die Villa endlich als fertig erklären musste und selbst die Decke um die berühmten drei Zentimeter angehoben war, wollte er daran noch etwas ändern. Um das Geld dafür zusammenzubekommen, spielte er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Lotto. Vergeblich.

 

Bis zu ihrem Tod 1958 lebte Margaret Stonborough in der für sie allein viel zu großen Villa, wenn auch mit längeren Unterbrechungen. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Wittgenstein-Haus als Lazarett, danach zog die Rote Armee mit Pferden ein. Nachdem Margaret gestorben war, stand es jahrelang leer und verfiel immer mehr. Ihr Sohn Thomas, berufslos und depressiv wie sein Vater, verkaufte das Palais an einen Investor, der auf dem Grundstück ein Hotel errichten wollte. 1971 war die Abrissgenehmigung bereits unterzeichnet. In letzter Minute konnte die endgültige Zerstörung dank einer Initiative Bernhard Leitners verhindert werden. „Das Haus kannte ja keiner“, musste er erkennen. Nach der Fertigstellung wurde es  von der  Fachwelt nicht erwähnt, in keiner Zeitschrift dokumentiert und schon gar nicht diskutiert. Leitner schreibt: „Ich habe es gesehen und mir sind die Augen ausgefallen. Es ist einer der wichtigsten Bauten des 20. Jahrhunderts.“ 1975 erwarb Bulgarien für günstige 500 000 Euro das Anwesen, um dort sein Kulturinstitut unterzubringen. Langsam, aber sicher verfällt Wittgensteins Kunstwerk, das die Stadt Wien, so Leitner, „eigentlich immer gehasst hat“. Wände wurden eingerissen, Türen verschweißt, Heizkörper und Wände umgestrichen, Tür- und Fensterklinken ausgewechselt, Leuchtstäbe eingezogen und die alten Bäume des Gartens gefällt. Leitungen sind über Putz verlegt es regnet durch das Dach, in den Wänden klaffen Risse. Doch darüber sollte man schweigen.

 

© Beim Autor | Alle Rechte vorbehalten. Dieser Text ist urheber- und verwertungsrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

 

 

Lorenz Schröter

1960 in München geboren, ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist.

 

Bildquelle und Hinweis. Portrait: Lorenz Schröter, 1989. Foto: © Lorenz Schröter Privatarchiv. Der deutsche Journalist Lorenz Schröter im Herbst 1989, Selbstauslöserfoto in seiner Unterkunft in Fujian, China. Schröter war damals auf einer Reise um die Welt mit dem Fahrrad, die in München begann und endete. Er berichtete von der Reise regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk (Zündfunk), wo seine Reiseeindrücke unter dem Claim "Blitzventil" liefen. Konzipiert und redaktionell betreut hat diese Serie der Regisseur Nikolai von Koswlowski. Dieses Bild ist urheber- und verwertungsrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Porträtierten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lorenz Schröter

Tractatus Architectonicus

Ludwig Wittgensteins Ausflug in die Baukunst brachte Wien ein geniales Haus. Und die Wiener Handwerker zur Verzweiflung

 

Das Haus war fertig, es musste nur noch geputzt werden, danach wollte Margaret Stonborough einziehen. Da entschied der Architekt, dass die Decke der Haupthalle aus Gründen der Ästhetik um drei Zentimeter angehoben werden müsse. Widerspruch war bei dem jähzornigen, völlig humorlosen Despoten zwecklos. Der Plafond wurde angehoben, was weitere enorme Kosten verursachte. Doch Geld spielte bei diesem Bau keine Rolle. Der Architekt war vorher niemals auch nur in der Nähe einer Architekturvorlesung gesehen worden. Er hatte Maschinenbau studiert und ließ noch während des Studiums einen Flugzeugmotor patentieren, der das Düsentriebwerk vorwegnahm. Später erfand er ein Messgerät für Blutdruckschwankungen. Doch sein bekanntestes Werk beginnt mit dem fulminanten Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Der Architekt hieß Ludwig Wittgenstein.

 

Seine Schwester, die geduldige und immens reiche Bauherrin Margaret, nannte ihn „Luki“. Sie war sieben Jahre älter, eine anerkannte Schönheit der Wiener Hautevolee, Intellektuelle und Mäzenin mit einer beeindruckenden Kunst- und Autografensammlung. Ihre Berliner Wohnung war von der Wiener Werkstätte eingerichtet worden. Vor ihrer Hochzeit mit dem Amerikaner Jerome Stonborough in Jahr 1905 porträtierte Gustav Klimt sie als noble Gesellschaftsblüte im cremefarbenen Seidenkleid. Ihr rastloses späteres Leben – inklusive Emigration und Juwelenschmuggel in der Unterwäsche – führte Margaret Stonborough nach Berlin, in die Schweiz, nach New York und immer wieder zurück in ihre Geburtsstadt Wien. Ihre Fähigkeit, Autoritäten durch private Kontakte und subversive List zu umgehen, behielt sie bis ins hohe Alter. Als Sigmund Freud 1938 ins Visier der eben in Österreich einmarschierten Nazis geriet, verhalf sie ihm gemeinsam mit ihrer Freundin Prinzessin Marie Bonaparte zur Ausreise nach London.

 

1925 fragte Margaret ihren Bruder Ludwig, ob er ihr bei der Planung einer Wiener Stadtvilla helfen wolle. Dieser war kurz zuvor als Volksschullehrer entlassen worden, weil er den Buben die Ohren blutig gerissen und sie bis zur Bewusstlosigkeit geohrfeigt hatte. Seinen Anteil am Millionenerbe hatte er an seine Geschwister verteilt, er hatte kein festes Einkommen und dilettierte als Gärtner. Da kam das schwesterliche Angebot durchaus gelegen. Von 1926 bis 1928 plante und leitete Ludwig Wittgenstein im dritten Bezirk zwischen 9 Kundmann- und Parkgasse den Bau des Palais. Es war das letzte seiner Art in den Wiener Innenbezirken, eine Hybride zwischen aristokratisch-repräsentativer und moderner bürgerlicher Architektur. Der Wittgenstein-Experte Paul Wijdeveld deutet die Architekturübung des Philosophen als „reinigende Geste“, gerade weil ein Autodidakt der Baukunst sie vollzogen hat.

 

Der hermetische äußere Eindruck der Villa verliert sich, sobald man die hohe Mauer durchschritten hat, die das Grundstück von der Straße trennt. Das Haus, früher inmitten einer Parklandschaft mit altem Baumbewuchs gelegen, wirkt mit jedem Schritt offener, leichter.

 

Fenster: grafisch gereiht, dicht aneinander gerückt, dabei irritierend weit von den Gebäudekanten platziert. Vom Garten führen ein paar Stufen auf eine von strengen Kuben beschützte Terrasse. Fällt nachts durch deren Glastüren Licht nach draußen, ist es, als würde eine japanische Papierlampe scheinen.

 

Der Einfluss von Adolf Loos, einem Freund der Familie Wittgenstein, ist unverkennbar. Zwei seiner Schüler waren an dem Palais beteiligt, Paul Engelmann, den Bruder und Schwester nach Herzenslust manipulieren konnten, und Jacques Groag, der einzige erfahrene Architekt bei dem Projekt. Ihn brachte Ludwig mir seinem rücksichtslosen Perfektionismus während der zweijährigen Bauzeit mehrmals an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. „Ludwig zeichnete jedes Fenster, jede Tür, jeden Riegel der Fenster, jeden Heizkörper mit der Genauigkeit, als wären es Präzisionselemente“, schrieb seine älteste Schwester Hermine. „Ich glaube noch den Schlosser zu hören, der ihn anlässlich eines Schlüssellochs fragte: „Sagen Sie, Herr Ingenieur, kommt es Ihnen da wirklich auf den Millimeter an?“, und noch ehe er ganz ausgesprochen hatte, fiel ein lautes, energisches „Ja“, dass der Mann beinahe erschrak.“

 

Die auf das funktionale Minimum reduzierten Türklinken wurden berühmt – ohne Beschläge oder sichtbare Schraube stecken sie direkt in der Tür. Die Doppelflügeltüren im großen Saal jede von ihnen unterschiedlich groß sind aus Eisenplatten  zusammengeschraubt; ihre Angelplatten verschwinden unter Farbe. Ohne Türschwelle schließen sie heute noch plan über dem Boden. Die Heizkörper ließ Wittgenstein in Deutschland gießen, kein österreichischer Handwerker konnte die geforderte Genauigkeit liefern. An den Fenstern verzweifelten acht Betriebe: Wie sollten 290 mal 25 Zentimeter große Scheiben in dünnen Messingrahmen gehalten werden, ohne zu zersplittern? Der neunte Glaser bekam einen Weinkrampf, da er den Auftrag unbedingt erfüllen wollte. Und irgendwie gelang es.

 

Wittgensteins Abneigung gegen das Ornament übertraf die von Adolf Loos bei weitem. Holz wurde übermalt, damit keine Maserung zu sehen war. Der Philosoph duldete keine Bodenleisten, Einfassungen oder Simse und verbot seiner Schwester Vorhänge, Teppiche oder Lüster. Erlaubt waren nur nackte 200-Watt-Birnen. Der Garten musste ganz grün bleiben, ohne Blumen. In einem Brief fragte ihn die Hausbesitzerin, ob sie wenigstens ein Außenthermometer aufhängen dürfe.

 

Trotz des fast manischen Klarheitszwangs, den man auch in Wittgensteins Schriften findet, ist das Ergebnis erstaunlich schön, die Atmosphäre alles andere als kalt. Noch heute fühlt man sich wohl in diesen Räumen. Durch die Glastüren und das gläserne Pultdach eines Wintergartens im Treppenhaus fallt Licht, der Stuccolustro an den Wänden glänzt in hellem Ocker, die grüngrau lasierten Metalltüren schimmern ebenso wie die polierten, fast schwarzen Bodenplatten aus feinkörnigem Kalkstein.

 

Sie wurden für jeden Raum so geschnitten, dass die Fugen exakt auf die Mitte der Flügeltüren trafen. Das alles bildete den Rahmen für den Stil der Hausherrin, für ihre Möbel der Wiener Werkstätte, ihre Sammlung von Skulpturen und Gemälden der Sezession.

 

„Wittgenstein hat das Haus für sich gebaut, um das geistige Experiment im Tun zu überprüfen“, meint der Architekt und Raum-Klang-Künstler Bernhard Leitner, Professor an der Akademie für Angewandte Kunst in Wien. Für Margaret und Ludwig bedeutete der Bau des Palais eine erneute Annäherung. Als Kinder waren sie einander sehr verbunden gewesen, doch später kehrte Margaret die große Schwester heraus: „Alle Schwäne Lukis sind Gänse“, befand sie einmal über den Freundeskreis des kleinen Bruders. Für beide markierte der Hausbau einen Wendepunkt. Margarets Ehe scheiterte endgültig, am Schwarzen Freitag 1929 verlor sie einen Großteil des gewaltigen Vermögens, ihre Söhne hatten die Schwermut des Vaters geerbt, der später Selbstmord beging. Dann kamen die Nazis und als Jüdin musste sie ihr geliebtes Wien verlassen. Die Welt, wie sie sie gekannt hatte, ging unter.

 

Für Ludwig hingegen hatte der Hausbau eine kathartische Wirkung. Sein ganzes Leben war er auf der Flucht vor seiner Familie gewesen, in der es zuging wie bei den Buddenbrooks. Der übermächtige Vater, ein Bilderbuchkapitalist mit Schnurrbart, Uhrenkette und Zigarre, wurde innerhalb weniger Jahre durch Handel und Spekulation zu einem der reichsten Männer der k. u. k. Monarchie. Die Mutter war liebevoll, neurotisch und überfordert, die Söhne alle kunstsinnig, alle depressiv und teilweise homosexuell. Drei Wittgenstein-Brüder begingen Selbstmord, Ludwig versuchte es zweimal und zog dann in den Krieg, mit der Absicht, an der Front zu fallen. Stattdessen wurde er mit der höchsten Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“ – diesen letzten Satz seines berühmten, quasi im Schützengraben geschriebenen „Tractatus logico-philosophicus“ kann man durchaus als Abschied lesen. Nach dem Ersten Weltkrieg lief Wittgenstein in einer abgeschabten Norfolkjacke herum, ungekämmt, ohne Krawatte, den obersten Hemdknopf offen. Wie jemand, dem soziale Konventionen längst nichts mehr bedeuten. Doch mit dem Hausbau fand der 37-Jährige wieder ins Leben. „Du glaubst, dass die Philosophie schon kompliziert genug sei“, bemerkte er gegenüber seinem Freund, dem Psychiater Maurice Drury. „Aber ich kann dir sagen, dass das gar nichts ist, verglichen mit der Schwierigkeit, ein guter Architekt zu sein. Als ich das Haus für meine Schwester in Wien baute, war ich am Ende des Tages so erschöpft, dass alles, was ich noch tun konnte, war, jeden Abend ins Kino zu gehen.“ Der Hausbau und die Western taten ihm sich dich gut. Das „Tractatus“ wurde als Doktorarbeit der Philosophie in Cambridge anerkannt, wo er sich als ein wegen seiner Unerbittlichkeit gefürchteter Professor etablierte. Noch jahrelang dachte Wittgenstein an sein Werk in der Kundmanngasse: „Mein Haus für Gretl ist das Produkt entschiedener Feinhörigkeit, guter Manieren, der Ausdruck eines großen Verständnisses (für eine Kultur)“, notierte er 1940. „Aber das ursprüngliche Leben, das wilde Lebens, welches sich austoben möchte – fehlt. Man könnte also auch sagen, es fehlt im die Gesundheit.“ Trotz seiner notorischen Selbstzweifel war er zufrieden mit seinem Bau-Werk. Bis auf ein Detail. Ein Treppenhausfenster an der Rückseite. Als er die Villa endlich als fertig erklären musste und selbst die Decke um die berühmten drei Zentimeter angehoben war, wollte er daran noch etwas ändern. Um das Geld dafür zusammenzubekommen, spielte er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben Lotto. Vergeblich.

 

Bis zu ihrem Tod 1958 lebte Margaret Stonborough in der für sie allein viel zu großen Villa, wenn auch mit längeren Unterbrechungen. Während des Zweiten Weltkriegs diente das Wittgenstein-Haus als Lazarett, danach zog die Rote Armee mit Pferden ein. Nachdem Margaret gestorben war, stand es jahrelang leer und verfiel immer mehr. Ihr Sohn Thomas, berufslos und depressiv wie sein Vater, verkaufte das Palais an einen Investor, der auf dem Grundstück ein Hotel errichten wollte. 1971 war die Abrissgenehmigung bereits unterzeichnet. In letzter Minute konnte die endgültige Zerstörung dank einer Initiative Bernhard Leitners verhindert werden. „Das Haus kannte ja keiner“, musste er erkennen. Nach der Fertigstellung wurde es  von der  Fachwelt nicht erwähnt, in keiner Zeitschrift dokumentiert und schon gar nicht diskutiert. Leitner schreibt: „Ich habe es gesehen und mir sind die Augen ausgefallen. Es ist einer der wichtigsten Bauten des 20. Jahrhunderts.“ 1975 erwarb Bulgarien für günstige 500 000 Euro das Anwesen, um dort sein Kulturinstitut unterzubringen. Langsam, aber sicher verfällt Wittgensteins Kunstwerk, das die Stadt Wien, so Leitner, „eigentlich immer gehasst hat“. Wände wurden eingerissen, Türen verschweißt, Heizkörper und Wände umgestrichen, Tür- und Fensterklinken ausgewechselt, Leuchtstäbe eingezogen und die alten Bäume des Gartens gefällt. Leitungen sind über Putz verlegt es regnet durch das Dach, in den Wänden klaffen Risse. Doch darüber sollte man schweigen.

 

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Lorenz Schröter

1960 in München geboren, ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist.

 

Bildquelle und Hinweis. Portrait: Lorenz Schröter, 1989. Foto: © Lorenz Schröter Privatarchiv. Der deutsche Journalist Lorenz Schröter im Herbst 1989, Selbstauslöserfoto in seiner Unterkunft in Fujian, China. Schröter war damals auf einer Reise um die Welt mit dem Fahrrad, die in München begann und endete. Er berichtete von der Reise regelmäßig für den Bayerischen Rundfunk (Zündfunk), wo seine Reiseeindrücke unter dem Claim "Blitzventil" liefen. Konzipiert und redaktionell betreut hat diese Serie der Regisseur Nikolai von Koswlowski. Dieses Bild ist urheber- und verwertungsrechtlich geschützt. Seine Veröffentlichung hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Porträtierten.